Ich verbringe mehrere Monate im Jahr auf der Kykladen-Insel Syros. Im Frühjahr reizt es mich Ausflüge zu den Nachbarinseln zu unternehmen. Mit der „Blue Star“ braucht man nur knapp 40 Minuten rüber zur Nachbarinsel Tinos. Und diesmal möchte ich mir das Dorf Volax ansehen.
Es gibt ungefähr 50 Dörfer auf Tinos, schön verteilt über die hügelige Landschaft der Insel. Viele davon haben eine interessante mittelalterliche Architektur. In manchen verfallen die Häuser, häufig jedoch wurde liebevoll renoviert. Es sind beliebte Ziele für einen Tagesausflug. Oft findet man kleine Tavernen, mit traditioneller Speisekarte. Andere jedoch mit einem riesigen Platzangebot, in denen im Juli und August ausgelassen gefeiert wird. Dann pulsiert die griechische Lebensfreude. Und es scheint, als gäbe es keinen schöneren Ort zum Leben. Aber danach sind die Dörfer meist leer! Touristen, vor allem ausländische, sind nicht so zahlreich auf Tinos und bevorzugen nur die Sommermonate. Die einheimischen Bewohner gehen ihrer Feldarbeit nach und leben zurückgezogen. Und die Besitzer der Sommerresidenzen kommen ohnehin nur wenige Wochen im Jahr. Im Dorf Tripotamos, ein beliebtes Ausflugsziel im Sommer, erklärte mir der Bauer Panajotis, dass dort noch 75 Einheimische leben. Ich hatte mindesten dreimal so viel geschätzt.
Einige Dörfer verstehen es jedoch mit einem kulturellen Angebot an Kunst, Musik und Theater die lebendige Zeit im Jahr zu strecken. Oft sind es private Initiativen, die sich darum kümmern. So ein Dorf ist Volax. Es liegt etwa 17 km nördlich vom Hauptort Tinos entfernt, in einer Gegend, die weltweit einzigartig ist. Aber davon später.
Beim Schlendern durch die Gassen fällt mir auf, dass hier und da Wände und Türen alter Häuser mit Texten bemalt sind. Es sind Gedichte bekannter griechischer Lyriker. Darunter auch Werke von Konstantínos Kaváfis und Níkos Gátsos. Auch wenn sich die griechische Dichtkunst nicht jedem erschließt, die dekorative Wirkung ist gelungen. Bei so einem kulturellen Anspruch erscheint mir der Souvenirladen in der Dorfmitte eher kitschig.
Weiter hinten im Dorf gibt es ein Amphitheater. Getöpferte Tontafeln weisen den Weg. Plötzlich und unerwartet liegt es vor einem, wenn man die engen Gassen verlassen hat. Ich erfahre, dass es gut und gerne genutzt wird. Besonders die Jazz-Musikfestivals, die hier in den lauen Sommernächten stattfinden, haben das kleine Dorf berühmt gemacht. Die Plakate vorangegangener Jahre beweisen das internationale Niveau. Schlau ist auch, dass bei manchen Veranstaltungen ein kostenloser Bus-Transport zum Dorf und zurück angeboten wird.
Es gibt vieles, dass Volax anders, früher, oder besser gemacht hat als die anderen Dörfer auf Tinos. Der 1983 von Einheimischen gegründete Kulturverein „Die Volax von Tinos“ sorgte für eine hervorragende Wasserversorgung, eine funktionierende Kanalisation und für neue Pflaster in den Gassen des Dorfes. Auch die Verschönerung der alten Häuser mit lyrischen Texten und Blumenbeeten ist eine Leistung des Kulturvereins. So wurde Volax zum Maßstab für die attraktive Gestaltung der Dörfer auf Tinos. Die vielen kulturellen Aktivitäten im Dorf werden auf der eigenen Webseite angekündigt und kommentiert. Dort gibt es auch einen hervorragenden Überblick über die Historie des Dorfes und über seine Traditionen (www.volax.gr).
Auch das Korbmacher Handwerk hat hier eine lange Tradition. Im vergangenen Jahrhundert war Volax das Zentrum der Korbflechter auf den Kykladen. Es belieferte nicht nur die umliegenden Inseln, auch die Bauern von Attika brauchten Körbe für die Ernte. Natürlich machen billige Kunststoffprodukte diesem Handwerk das Leben zunehmend schwer. Doch auch heute noch wird geflochten in Volax.
Man braucht nicht lange bis man die Werkstatt von Loudovikos Sigala findet. Eine Auswahl seiner Arbeiten dekoriert den Eingang. Büschel von Weidenzweigen stehen an der Wand. In dem Regal daneben sieht man die ganze Palette seiner Flechtkunst, sorgfältig arrangiert, zum Verkauf. Davor hat er seinen Arbeitsplatz. Ich frage ihn, ob ich ihm eine Weile zusehen darf. Sofort bittet er mich, dass ich mich doch erst einmal setzen soll. Und natürlich muss ich erst ein Gläschen Tsipouro trinken. Es ist doch kalt draußen, meint er. Dann entwickelt sich ein lockeres Gespräch, so als wäre ich der nette Nachbar von nebenan. Viele Werkzeuge braucht er offenbar nicht, aber es verlangt kräftige Hände und viel Geschick, sagt Loudovikos. Als der sympathische Kerl mir die aufwändigen Vorarbeiten erklärte, da staunte ich nicht schlecht. Denn wie vor mehr als hundert Jahren richten sich die Arbeiten immer noch nach dem Mondkalender. Die Weidenzweige werden 2 Wochen nach dem Julivollmond geschnitten. Dann erfolgt die Weiterverarbeitung mit schälen und trocknen. Nach der Lagerung werden sie nochmals gewässert, damit sie biegsam werden. Erst dann kann mit der eigentlichen Arbeit, dem Flechten, begonnen werden. Vier bis sechs Stunden braucht Loudovikos um einen Korb zu flechten. Das alles hat er schon von seinem Großvater gelernt. Das Handwerk verliert jedoch immer mehr an Beachtung, weiß auch Loudovikos. Aber er weiß nicht, ob er es nochmal an die nächste Generation weitergeben kann. Nach meinem Gespräch möchte ich mich irgendwie erkenntlich zeigen. Aber einen geflochtenen Korb kann ich nun wirklich nicht gebrauchen, und so kaufe ich ein großes Glas mit Kapern. Ungefähr 50 Einwohner hat Volax, im Winter sicherlich noch weniger, da leben viele lieber in der Stadt. Vor einigen Jahren gab es noch vier Familien, die sich mit dem Korbflechten beschäftigten. Es scheint so, das Loudovikos dieses Handwerk bald alleine ausüben wird.
Die Gegend rund um Volax ist geologisch einzigartig – und zwar weltweit! Überall liegen diese runden Felsbrocken herum. Es sind Granitfelsen, deren runde Formen und die verstreute Verteilung in der Landschaft Rätsel aufgeben. Bis heute gibt es keine eindeutige Erklärung für ihr Vorkommen und die eigenartigen Formen.
Wie sind sie entstanden und wo kommen sie her, diese Riesenmurmeln? Es gibt wunderschöne Vermutungen oder Erklärungen. Ist es ein verlassenes Schlachtfeld, auf dem sich Titanen mit Felsen beworfen haben? Überreste einer Steinschlacht antiker Götter? Oder einfach nur Kugeln, die aus einem naheliegenden Vulkan
herausgerollt sind und jetzt so eine Art Mondlandschaft bilden? Theo Schlag schreibt in seinem Reisebericht in „theopedia“: „Wie versteinerte Eier von prähistorischen Riesen-Echsen liegen die unzähligen, bis zu zehn Meter hohen Granitfelsen an den Hängen. Man kommt sich vor, wie eine Stubenfliege in einem riesigen Osternest“. Ja, die Formen sind beeindruckend und regen die Phantasie an.
Mein 2-Tagesausflug geht zu Ende. Auf dem Weg zurück nach Tinos-Stadt fahre ich vorbei an den wunderschönen Taubenhäusern, die die Landschaft auf Tinos prägen.
Einst von den Venezianern erbaut dienten sie zur Kommunikation in der gesamten Ägäis. Denn damals wurde noch viel mit Hilfe der Brieftauben kommuniziert. Heute funktioniert Kommunikation anders, aber die Taubenhäuser werden von den Menschen auf Tinos immer noch liebevoll gepflegt. Sie sind eine Attraktion, die einen eigenen Besuch und einen eigenen Bericht verdient.