SYROS – Ein Reisebericht

SYROS

modern – griechisch – unbekannt

Mit einem irren Tempo fährt unser Schiff in den Hafen und macht dabei noch eine elegante 180 Grad-Wende. Viel Zeit bleibt uns nicht dieses spektakuläre Manöver zu bewundern, denn wir sind angekommen im Hafen von Ermoupolis und müssen raus. Mit uns verlassen viele Autos und hochbeladene Lkws das Schiff und suchen sich den richtigen Weg aus dem Verkehrsgewimmel einer Hafenstadt.

Der erste Eindruck ist überwältigend. Wie ein riesiges Amphitheater stapeln sich die Häuser der Stadt vor uns den Berg hinauf, und oben drauf eine stolze Kirche. Aber es sind zwei Amphitheater, die zusammen diese beeindruckende Kulisse bilden: Ermoupolis und Ano Syros. Noch vor Minuten hätte niemand von uns einen derartigen Anblick erwartet. Denn die kargen Hügelketten, die wir nach knapp vier Stunden Fahrt vom Schiff aus sahen, ließen diese Überraschung nicht vermuten. Jetzt sind wir also da und noch bevor wir unsere Unterkunft finden, versuchen wir, bei Ouzo und Mezedes-Häppchen, das zuvor angelesene Wissen über unser Reiseziel wieder ins Gedächtnis zu rufen.
Syros ist vor allem geprägt durch seinen Hauptort Ermoupolis. Keine andere Insel hat ein derart beeindruckendes Rathaus, so viele neoklassizistische Gebäude, eine große Schiffswerft und ein Theater, von dem viele sagen, es wäre die kleine Mailänder Skala. Als Hauptinsel der Kykladen sind die Behörden in Ermoupolis zuständig für den gesamten Verwaltungskram in der südlichen Ägäis. Jeder, der einen wichtigen Stempel braucht muss hierhin. Ermoupolis ist ungewöhnlich groß und städtisch für eine griechische Insel. Eine kleine Metropole, in der das ganze Jahr über das gesellschaftliche Leben pulsiert. Bei den Griechen ist die Insel beliebt, ausländische Touristen trifft man hier eher selten. Die kennen Syros nur vom Vorbeifahren, da die Nachbarinseln Paros, Naxos, Mykonos usw. ja viel bekannter, vor allem aber touristischer sind.
Ermoupolis ist entstanden in den Jahren nach 1820. Es wuchs mit einer großen Dynamik vom kleinen Dorf zur großen Stadt. Um das zu verstehen muss man etwas zurückgehen in der Geschichte. Auf Syros wurde schon immer fleißig gehandelt. Die zentrale Lage, ein großer natürlicher Hafen und die Selbstverwaltung, die von den türkischen Besatzern gewährt wurde, haben die Entwicklung von Handel und Kultur begünstigt. Als Syros dann zu Beginn des griechischen Freiheitskampfes (1821) eine neutrale Position einnahm, kamen viele Flüchtlinge auf die Insel. Die meisten Einwanderer kamen aus der Gegend von Smyrna (heute Izmir) und von den ostägäischen Inseln, vor allem von Chios. Darunter waren viele wohlhabende Kaufleute und Händler. Und die machten das bis dahin unbedeutende Dorf sehr schnell zu einem Handels- und Kulturzentrum. So war es nur logisch, dass man die Stadt nach dem griechischen Gott HERMES benannte, dem Schutzgott der Kaufleute und Händler. Und mit den Einwanderern kam auch der orthodoxe Glaube nach Syros, das bis dahin überwiegend katholisch war. Den Katholizismus hatten die Lateiner schon im Mittelalter auf die Insel gepflanzt. Er hat sich fest verwurzelt, denn noch heute ist das Verhältnis zwischen Katholiken und Orthodoxen auf Syros ungefähr 50:50. Sehr ungewöhnlich für Griechenland!

In die damals noch junge Stadt Ermoupolis kamen Architekten und Baumeister aus den verschiedensten europäischen Ländern und boten ihre Dienste an. Einer dieser Baumeister war der Deutsche Ernst Ziller aus Sachsen. Der hat in Griechenland sein Lebenswerk verwirklicht. Nach seinen Plänen wurde nicht nur das monumentale Rathaus in Ermoupolis gebaut, vor allem in Athen hat er viele Villen und neoklassizistische Gebäude erschaffen. Darunter auch das Nationalmuseum und das Kronprinzenpalais, das noch immer Sitz des griechischen Präsidenten ist. In dieser Zeit wurden auch auf Syros viele prächtige Häuser gebaut. Und zahlreiche Privatvillen, die noch heute das Flair dieser Insel ausmachen. Posidonía, von vielen immer noch „Dellagrazia“ genannt, ist so ein Ort, in dem es noch eine Menge herrschaftliche Villen gibt.

Wir starten unsere Entdeckungstour in Ermoupolis. Eigentlich zu spät am Tag. Aber das gemütliche Apartment unserer Gastgeberin Eleni und das ausgiebige Frühstück haben uns so schnell nicht losgelassen. Jetzt schlendern wir zur Hafenpromenade und wundern uns über eine riesige Baustelle. Kreischende Sägen übertönen den Verkehrslärm. Berge von Sand und jede Menge Marmorplatten stapeln sich da, wo gerade noch Platz ist. Überall wird gebuddelt: Ermoupolis soll schöner werden! Der Verkehr wird durch enge Gassen umgeleitet, wo sich sonst kein Auto durchtraut. „Ab 9 Uhr abends ist der Hafenbereich für Autos total gesperrt“, erklärt uns Eleni. „Ende des Jahres sollte alles fertig sein. Jetzt im Frühjahr kann man jedenfalls erkennen, wie es einmal aussehen wird.“ Die Syrianer nehmen es gelassen. Wir auch, und biegen ein in die Marktstraße. Üppige Auslagen von Frischgemüse links und rechts, Vorhänge aus Wurst, ein nacktes Lamm und ein Schwertfischkopf, im Eis drapiert wie eine Trophäe. Wie abrupt sich das Bild geändert hat! Alles wird von kritischen Hausfrauen geprüft und begutachtet. Wir wuseln uns durch die Menge und erreichen den Rathausplatz, Herz und Anziehungspunkt von Ermoupolis. Wouw! Vor uns liegt das monumentale Rathaus der Stadt. So ein neoklassizistisches Gebäude würde man eher in Athen vermuten. Eine mächtige Freitreppe führt hinauf in die Verwaltung. Es scheint als verlange sie Respekt auf dem Weg in die Amtsräume. Palmen und ein gemütlicher Kaffeegarten vor dem Gebäude lockern die Atmosphäre wieder auf. Der Mitteltrakt ist ganz aus Marmor. Unter dem Giebel verrät eine historische Inschrift, dass das Gemeindehaus unter der Ratsherrschaft von Dimitrios Wafiadakis errichtet wurde. Auch er kam als Flüchtling aus Chios, begann als  Tuchhändler, wurde Bankier und schließlich Bürgermeister von Ermoupolis. Der weitläufige, von Palmen und Cafés umrahmte Rathausplatz, ist ein beliebter Treffpunkt für Bürger und Besucher. Unzählige Marmorplatten, aus den Steinbrüchen der Nachbarinsel Tinos, wurden hier verlegt und geben dem Platz das heutige  Aussehen. Im Sommer wird er oft zu einer großen Freilichtbühne. Hier finden die großen Konzerte und Festivals statt, wenn die Bühne des Apollon-Theaters zu klein wird. Vor dem Rathausplatz steht das Denkmal von Admiral Andreas Miaoulis, der einst die griechische Flotte im Freiheitskampf zum Sieg führte. Es scheint, als hätte er das Ruder immer noch fest in der Hand, so wie damals im Kampf gegen die Osmanen. Nach ihm hat man nun den Rathausplatz benannt, der auch schon einmal „König Otto Platz“ hieß.
Wir gehen rechts am Rathaus vorbei und erreichen das heutige Kulturzentrum. Mehr für die feine Gesellschaft gebaut, diente es für Vorträge, Konzerte und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Hier zeigten die feinen Damen bei einem Gläschen Champagner – oder auch mehr – ihre neuesten Moden. Ermoupolis war schon immer etwas prunksüchtig. In den 1840er Jahren war es das Clubhaus reicher Bürger. Dort traf sich auch der Club der Chioten und der Nicht-Chioten, entsprechend der Herkunft der Siedler. Diese Unterscheidung war damals offenbar wichtig. Eines hatten sie jedoch gemeinsam: Glücksspiele, Trinkgelage und ausgelassene Maskenbälle, die das Haus in Verruf brachten. Eine Polizeirazzia, bei der auch angesehene Bürger festgenommen wurden, hat dem Treiben ein Ende gesetzt. Heute finden in den Räumen des Kulturzentrums wieder Vorträge, Ausstellungen und Konzerte statt. Einen richtigen Ballsaal gibt es auch. Die hohen bemalten Decken und ausladende Kronleuchter lassen den Wohlstand der damaligen Zeit erkennen.

Gleich um die Ecke finden wir das Apollon-Theater, Wahrzeichen der kulturellen Entwicklung von Ermoupolis. Von außen ein eher schlichtes Gebäude, aber innen ein Prachtstück! Es hat gerade seine 150 Jahr-Feier hinter sich (2014). Das Volk drängelte die damalige Stadtregierung, endlich eine angemessene Spielstätte zu bauen für die vielen beliebten kulturellen Aktivitäten in der Stadt. Und die Künstler und Artisten wollten auch endlich raus aus ihren Holzhütten und engen Hinterhofclubs. So wurde der italienische Architekt Pietro Sambo mit dem Bau eines Theaters beauftragt. Vorbild sollte nichts Geringeres sein als der damalige italienische Standard. Vor allem die Mailänder Scala gefiel den Auftraggebern gut. Zur Einweihung im Jahre 1864, wurde Verdis Oper „Rigoletto“ aufgeführt. In den Jahren danach erlebte das Theater eine wahre Glanzperiode und überstand dabei so manche wirtschaftliche Rezession. Das großartige Haus konnte jedoch über die Zeit nicht angemessen instand gehalten werden. Immer wieder fehlte es an Geld. Während der Besatzungszeit wurde es von Italienern und Deutschen als Kino benutzt und verfiel immer mehr. Vor allem deutsche Bomben gegen Ende des Krieges, haben dem Gebäude arg zugesetzt. Die größte Katastrophe jedoch – so sagen die Griechen – war die absolut stümperhafte Renovierung im Jahre 1970, als die schönen hölzernen Logen durch nackte Betonbalkone ersetzt wurden. In den 90er Jahren schließlich wurde es gründlich und gut renoviert. Jetzt ist es wieder die „kleine“ Mailänder Scala. „Das ganze Jahr über gibt es hier ein tolles Kulturprogramm“, sagt Eleni. „Die Menschen auf Syros lieben ihr Theater und es wird gut besucht.“ Da sind wir dabei und kaufen gleich zwei Karten für ein Theaterstück der örtlichen Laienspielgruppe.

Der linke Hügel der gewaltigen Stadtkulisse ist Ano Syros. Ano Syros war mal eine mittelalterliche Festung und ist viel älter als Ermoupolis. Jedes Haus hat hier schon mehrere hundert Jahre auf dem Buckel. Die dicht an dicht gesetzten Häuserreihen wurden von oben nach unten gebaut und bilden nach außen hin einen Schutzwall. Dahinter haben sich, während der Vorherrschaft der Lateiner, viele katholische Siedler niedergelassen. Das Geschichtsbuch erwähnt im Jahre 1635 mehr als 2000 katholische und nur ca. 100 orthodoxe Einwohner. Von den einst sieben Zugängen der befestigten Siedlung gibt es heute noch drei. Die kann man zwar per Auto erreichen, der Stadtkern ist aber für Fahrzeuge gesperrt. Die engen Gassen und die vielen Treppen machen den Autoverkehr ohnehin unmöglich. So laufen wir also zu Fuß durch die verwinkelten Gassen und erfahren, dass das typische Haus in Ano Syros, wegen der Hanglage, immer zwei Ebenen hat. Die urigen Tavernen bieten traditionelle Küche und vom Balkon einen phantastischen Blick auf die Stadt und die Neorion Werft. Und immer wieder erinnern Bilder und Musik an Markos Vamvakaris, dem berühmten Bouzouki Spieler. Sehr touristisch ist es in der alten Oberstadt nicht. Die sonst üblichen Souvenirläden findet man kaum, denn ganz Ano Syros steht unter Denkmalschutz. Ob das so bleibt ist fraglich. „Es wird überall nach Anreizen gesucht, um den Tourismus auf Syros zu fördern“, sagt Eleni. Ganz oben auf dem Hügel erreichen wir die katholische Bischofskirche Sankt Georg. Daneben stehen das außen sehr schlichte Jesuitenkloster und der Bischofsitz. Von hier hat man einen guten Blick hinüber zur Auferstehungskirche der Orthodoxen, die auf der anderen Hügelspitze thront. Sie verstehen sich gut, die Katholiken und die Orthodoxen. „Ich glaube wir sind der einzige Ort auf der Welt, wo Katholiken und Orthodoxe das Osterfest immer zur selben Zeit feiern. Das wurde uns vom Vatikan hochoffiziell erlaubt“, erklärt uns Eleni. Und fügt begeistert hinzu: „Für mich ist es das schönste Fest auf den Kykladen. Die Prozession der Katholiken aus Ano Syros startet hier an der Sankt Georg Kirche. Die Prozession der Katholiken aus Ermoupolis startet an der Evangelistria Kirche. Und die Orthodoxen haben gleich drei Prozessionen. Sie alle ziehen zum Rathausplatz. Das solltet ihr mal miterleben!“

Einer der großen Söhne von Syros ist der Rembetiko Musiker Markos Vamvakaris. 1905 in Ano Syros geboren wuchs er auf im Milieu der Tagelöhner. Half hier und da seinem Vater beim Körbe flechten und lernte eine Zeit lang das Handwerk in der Schneiderei seines Onkels. Aber der lebhafte Markos war nicht für die Fabrikarbeit geschaffen. Schon als Dreizehnjähriger nahm er Reißaus, schlich sich auf ein Schiff und fuhr als blinder Passagier nach Piräus. Dort lernte er im Hafenmilieu Bouzouki spielen. Markos war sehr talentiert, hing voll und ganz an seinem Instrument. Er spielte in Hafenkneipen und in Tekedes, den Haschisch-Höhlen von Piräus, wo die vulgären Lieder über Liebe und Leid, Trauer und Drogen das harte Leben der einfachen Menschen erleichtern sollten. Markos Vamvakaris kannte dieses Leben und schrieb seine eigenen Songs. Bald hatte er seine eigene Kapelle und seine Kompositionen wurden weit über Piräus hinaus bekannt. Als das Bouzouki in Griechenland salonfähig wurde, verschaffte ihm das sogar internationale Anerkennung. Sein Name wird für immer mit dem Rembetiko verbunden sein. „Frankosyriani“, eines seiner besten Lieder, widmete er einem katholischen Mädchen aus seiner Heimatstadt. So war für uns ein Besuch des Vamvakaris-Museums ein Muss. Dort zeigen die Leute aus Ano Syros viele persönliche Gegenstände und Zeugnisse aus dem Leben ihres „Markos“.

Im südlichen Teil von Ermoupolis bestimmt die Schiffswerft Neorion das Stadtbild. Dort war schon immer das Viertel der Handwerker. Schon sehr früh entstanden dort Getreidemühlen, Seifenküchen und Gerbereien. Doch die zunehmende Industrialisierung brauchte Platz für größere Betriebe. Garnspinnereien und Maschinenfabriken wurden nun gebaut. Und da wo früher eine Quarantänestation war, steht heute die Schiffswerft Neorion. Damals wie heute der größte Arbeitgeber auf Syros.  „Das Schicksal von Neorion war auch immer das Schicksal der Stadt“, sagt uns Eleni und erklärt kurz die wechselvolle Geschichte. 1860 gegründet, erlebte die Werft ca. 30 Jahre später den ersten Konkurs. Es folgten noch viele Pleiten und ebenso viele Besitzerwechsel. Man hat einiges versucht um den Fabrikbetrieb aufrecht zu erhalten. Auch Dampfmaschinen, Pumpen und Kanonen wurden produziert. Einer der vielen Besitzer war der griechische Millionär Giannis Goulandris. Er versuchte es sogar mit Elektro-Autos. Von englischen und griechischen Ingenieuren entwickelt, wurden 1973 gut hundert Stück gebaut. Aber die griechische Regierung erlaubte die Zulassung nicht. Sie wurden alle nach England exportiert. Heute werden auf der Werft keinen neuen Schiffe mehr gebaut und Neorion versucht sich mit Reparaturarbeiten über Wasser zu halten. Darunter leiden die Angestellten der Firma sehr. Was bei uns kaum vorstellbar ist, geschieht auf Syros schon seit mehreren Jahren: Die Mitarbeiter erhalten keinen Lohn und arbeiten nur für die Sozialversicherung.

Im Nordosten der Stadt, direkt am Meer, erreichen wir den Ortsteil Vaporia. Es ist das Luxusviertel von Ermoupolis. „Die vielen eleganten Herrenhäuser haben ihre eigene Geschichte“, erklärt uns Eleni. Als die ersten Siedler kamen, suchte man eine geeignete Stelle für deren Unterkunft. Die meisten Bewohner des Dorfes waren Bauern und das Hinterland, das sie nutzten, wollten sie nicht hergeben. Also hat man die neuen Siedler da untergebracht wo niemand wohnen wollte: direkt am Meer. Die ersten Häuser, die gebaut wurden waren schlicht und einfach. Man brauchte zunächst ein Dach über dem Kopf. Viele der Einwanderer waren nun Kaufleute und Händler. Manche Familien hatten ihre Wurzeln in der byzantinischen Aristokratie. Also nutzten sie die alten Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich. So kamen sie schnell zu Geld, dass man nutzte um auch das eigene Wohlbefinden zu verbessern. Jetzt wurden die schlichten Häuser nach und nach durch stattliche Wohnpalais ersetzt. Das Viertel wurde immer attraktiver. Fabrikanten und Reeder, die neue Oberschicht,  zog nun dorthin. Spätere Generationen verließen Syros wieder. Sie gründeten neue Firmen im Ausland, andere gingen wegen der Handelsrezession um 1870 nach Piräus. Häuser wurden verkauft, an höhere Beamte vermietet, oder der Stadt geschenkt. „Deshalb sind in manchen früheren Herrenhäusern jetzt öffentliche Dienststellen untergebracht“, weiß Eleni zu berichten. Einige Häuser wurden umgebaut und man hat sich dabei nicht an den Stil der alten Palais gehalten. Aber auch die neuen Herrenhäuser sind elegant und attraktiv. Vaporia ist auch heute noch die bevorzugte Wohngegend wohlhabender Bürger.

Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass die Besiedelung im mittleren und südlichen Bereich der Insel deutlich dichter ist als im Norden. Die Straßen dorthin sind schmal und etwas holperig. In San Michalis ist schon Ende. Aber ab hier eröffnet sich eine fast unberührte Natur, die zum Wandern geradezu auffordert. Auch ein paar abgelegene Strände sind gut erreichbar. Bei der Rückkehr kann man in der Taverne „T´Aloni“ die Spezialitäten von Meike und Thanassis genießen. Das deutsch/griechische Ehepaar ist sogar in Ermoupolis für seine gute Küche bekannt. Sie lieben die Abgeschiedenheit und nehmen dafür auch in Kauf, dass sie im Winter ab und zu mal eingeschneit sind.

Wir verlassen Ermoupolis in südlicher Richtung und durchfahren die Streudörfer Tálanta, Parakopí und Posidonía. In der wirtschaftlichen Blüte von Ermoupolis wurden sie zu Sommerdörfern reicher Bürger. Hier bauten sie ihre Ferienvillen im üppigen Grün von Pinienhainen und nahe der wenigen Wasserquellen der Insel. In Dellagrazia-Posidonia stehen noch viele alte Herrenhäuser mit Pavillons, Zisternen und großen Terrassengärten. Die Namen der einstigen Besitzer lesen sich wie das Geschichtsbuch von Syros. Heute sind die Häuser entweder in Privathand, Teil einer Stiftung oder werden als öffentliche Gebäude genutzt. Im Sommer ist Posidonia ein beliebter Badeort. Direkt an dem kleinen Stadtstrand, nur drei Schritte vom Meer, steht das ehrwürdige Hotel Possidonion. Die nostalgische Dekoration im Speisesaal erinnert an die Blütezeiten der Insel. Wer es etwas lebhafter liebt, der besucht die Strände bei Galisas, Kini oder Finikas. Diese Orte bieten im Sommer zahlreiche Unterkünfte und viele Tavernen. Hier trifft man die meisten ausländischen Badetouristen.  Und Finikas, mit seiner gut ausgestatten Marina, ist ein internationaler Treffpunkt für Segler. Uns haben die etwas kleineren Strände besser gefallen. Ambéla, ganz im Süden, ist so ein gemütlicher Strand mit einer erstklassigen Taverne. Sehr vorteilhaft auf Syros ist, dass die wirklich guten Tavernen in der Nachsaison ihren Restaurantbetrieb in Ermoupolis weiterführen. So kann man auch in der Winterzeit deren ausgezeichnete Küche genießen und das Personal wird ganzjährig beschäftigt.

Wieder zurück in Ermoupolis folgen wir einem Tipp von Eleni und besuchen den orthodoxen Friedhof Aghios Giorgos. Wir erkennen, dass der Friedhof in zwei unterschiedliche Bereiche aufgeteilt ist, einer mit großen Monumenten und einer mit eng aneinander gereihten Grabsteinen. Das sind die Gräber der ersten Siedler. Die Grabsteine sind einfach. Anker, Schiffe oder andere Werkzeugsymbole erzählen etwas über das frühere Handwerk der Verstorbenen. Manche Grabinschriften sind überschrieben oder ergänzt worden und insgesamt ist die Gestaltung wenig individuell. Ganz anders der jüngere Bereich mit den monumentalen Grabstätten. Hier haben die früheren Berühmtheiten der Insel ihre Tempelchen und Sarkophage. Engel mit Schildern und Schwertern schützen und bewachen die Gräber. Ein trauriger Engel, übergroß, sitzt auf dem Grab von Dimitrios Wafiadakis, Marmorsäulen umrahmen das Mausoleum einer Familie, und eine kniende Engelsfigur bedauert den Tod des Widerstandskämpfers Andreas Kosmas. Die Grabinschrift erzählt seine Lebensgeschichte. Das alles sind architektonische Meisterwerke, mit denen sich hier wohlhabende Bürger und Persönlichkeiten von Syros verewigen ließen.

Ein Stück weiter die Straße hinauf gibt es noch einen katholischen Friedhof zu besichtigen. Aber nach so viel Trauer und Tod wollen wir uns wieder unter die Lebenden mischen und spazieren zurück zur Hafenpromenade. Die vielen Reisebüros und Ticketshops erinnern uns daran, dass unser Aufenthalt bald zu Ende geht. Doch die kleinen Läden dazwischen sind uns jetzt viel wichtiger. Die verkaufen nämlich Loukoúmia und Halvadópittes, die süßen Spezialitäten von Syros. Die Auswahl an Loukoúmia (mit Puderzucker bestäubte Fruchtgeleestückchen) ist groß und bunt, aber davon kriege ich immer nur wenig runter. Halvadópittes, die leckeren Oblaten mit türkischem Honig und Nüssen, kaufen wir reichlich.
Für den Abend entscheiden wir uns nochmal für die Taverne „T´Aloni“ und fahren hinauf in den Norden. Die Taverne ist heute gut besucht. Wir sitzen deshalb auf dem Dreschplatz, gleich neben dem Haus, und haben einen tollen Blick aufs Meer (T´Aloni=Dreschplatz). Meike und Thanassis servieren uns ihre Tagesempfehlung: Kaninchenstifado, Rote Beete und einen Kapernsalat vom Feinsten. Den spektakulären Sonnenuntergang gibt es gratis dazu. Ob alle Gäste wissen wie sehr sich Thanasis bemüht, immer die besten Kapernsträucher zu finden? Wir bedanken uns für das vorzügliche Essen und die Zeit, die sich die beiden nehmen, um mit uns zu plaudern. Wann wir denn das nächste Mal kommen, fragt uns Meike. Nun, das wird noch eine Zeit lang dauern, denn morgen ist unser Abreisetag. Auf dem Heimweg in unser Apartment fragen wir uns: Wie kann es eigentlich sein, dass diese Insel so unbekannt ist? Was hat uns so sehr beeindruckt? War es die Kombination von Kultur, Architektur und Gastfreundschaft? Oder einfach nur die angenehme Abgeschiedenheit vom Massentourismus? Das kulturelle Angebot von Syros ist jedenfalls zu groß für einen einmaligen Besuch.

Am nächsten Morgen stehen wir am Hafen und warten auf die Fähre. Dann kommt sie: mit einem irren Tempo und einer eleganten 180 Grad-Wende.